Betrachte das menschliche Elend

1. Wo du auch gehst und stehst, wirst du dich haltlos fühlen, bis du in Gott verwurzelt bist. Was regst du dich auf, wenn dein Wünschen und Wollen nicht in Erfüllung gehen? Wem gelingt alles nach Wunsch und Willen? Mir nicht, dir nicht, keinem Menschen auf Erden. Niemand entrinnt hienieden jeder Trübsal und Not, nicht einmal der König oder Papst. Wer fühlt sich also am wohlsten? Offenbar, wer für Gott etwas leiden darf.
2. Mancher Tor und Schwachkopf sagt: Schau, was hat doch der für ein schönes Leben, er ist reicht, groß, mächtig, hochgestellt. Doch lenke den Blick auf die himmlischen werte, und du wirst zugeben müssen, dass alle zeitlichen Vorzüge diesen Namen gar nicht verdienen, so unbeständig sind sie. Eher müssten sie Lasten heißen, da ihr Besitz stets Kummer und Sorge verursacht. Zeitliche Güter in Fülle besitzen, macht den Menschen nicht glücklich; ein bescheidenes Maß genügt. Fürwahr, das irdische Dasein ist eine Plage.
Je mehr sich jemand um den geistlichen Fortschritt bemüht, umso schwerer fällt ihm dieses Leben, weil er die Schwäche der menschlichen Natur und ihre Verdorbenheit schärfer fühlt und besser erfasst. Denn essen, trinken, wachen, schlafen, ruhen, arbeiten und die übrigen Heische der Natur bedeuten zweifellos ein großes Elend; sie bedrücken den geistlich eingestellten Menschen. Gerne wäre er das alles los und lebte gänzlich fehlerfrei.
3. Der innerliche Mensch leidet nämlich in dieser Welt unter den Forderungen des Fleisches. Deshalb bittet der Prophet andächtig um Befreiung davon mit den Worten: „Erlöse mich, Herr, von meinen Nöten.“ Wehe denen, die ihr Elend verkennen; und doppelt wehe, wenn jemand in dieses armselige, vergängliche Leben vernarrt ist. Einige kleben dermaßen daran, obschon sie sich durch Arbeit und Bettel kaum durchbringen können, dass ihnen das Gottesreich gleichgültig wäre, wenn sie immer hier bleiben dürften.
4. O ihr Toren und Herzensblinde, die so tief im Irdischen stecken, dass ihr nur dem Körperlichen Geschmack abzugewinnen versteht! Am Ende wird es diesen Elenden erschreckend zum Bewusstsein kommen, an was für hohle und nichtige Dinge sie ihr Herz gehängt haben. Die heiligen Gottes dagegen und alle frommen Christusfreunde verweilen nicht bei dem, was dem Fleische schmeichelt und in dieser Zeit blüht; ihr ganzes Hoffen und Sehnen ging auf das Ewige. Ihr Verlangen galt ausschließlich dem, was oben liegt, dem Dauerhaften und Unsichtbaren, damit die Liebe zum Sichtbaren sie nicht nach unten reiße.
5. Mitbruder, gib die Hoffnung auf geistlichen Fortschritt nicht auf; noch hast du Zeit. Aber warum wolltest du deinen Vorsatz erst morgen ausführen? Heute erhebe dich, fang sogleich an, sprich: Gekommen ist die Stunde der Tat, die Stunde des Kampfes, die Stunde der Besserung. Fühlst du dich kraftlos und niedergeschlagen, so hast du Gelegenheit, Verdienste zu sammeln. „Feuer und Wasser“ musst du durchschreiten, bevor du zur Erquickung gelangst. Weigerst du dich, dir Gewalt anzutun, wirst du mit deinen Leidenschaften nie fertig.
Solange wir diesen gebrechlichen Leib mit uns herumschleppen, versagen wir immer wieder und begegnen immer wieder Verdrießlichkeit und Leid. Gern wären wir alles Elend los, aber nachdem uns die Sünde der Unschuld beraubt hat, verloren wir auch das wahre Glück. Deshalb heißt es sich gedulden und Gottes Erbarmen abzuwarten, bis „die Bosheit ein Ende fand, und das Sterbliche im Unsterblichen aufging“.
6. Wie groß ist doch die menschliche Schwäche; immerfort steht sie den Leidenschaften offen. Heute beichtest du deine Sünden, und morgen schon fällst du wieder zurück. Du nimmst dir vor, auf der Hut zu sein, und schon eine Stunde später handelst du, als hättest du keinerlei Vorsatz gefasst.
So haben wir allen Grund, uns zu demütigen und nicht zu überheben, da wir so hinfällig und unbeständig sind. Rasch kann ferner durch Nachlässigkeit verlorengehen, was mit der Gnade unter viel Mühe erreicht wurde.

(Aus: Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi. 1. Buch, 22. Kapitel. Benzinger Verlag 1979, S. 55-58)

 

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